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Bücher und Schriften

Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder Mystisches Christentum (Kosmo-Konzeption)


Eine elementare Abhandlung über die vergangene Entwicklung, die gegenwärtige Zusammensetzung und die zukünftige Entfaltung des Menschen.

Max Heindel (1909)

Ein Wort an die Weisen


Der Begründer der christlichen Religion sprach eine okkulte Wahrheit aus, als er sagte: "Wer das Reich Gottes nicht empfängt, wie ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen." (Mark. 10,15) Alle Okkultisten erkennen die weittragende Wichtigkeit dieser Lehre Christi an und bemühenn sich, Tag für Tag danach zu "leben". Wenn der Welt eine neue Philosophie gegeben wird, so kommen verschiedene Menschen ihr auf verschiedene Weise entgegen.

Der eine greift jede neue philosophische Bemühung begierig auf, um festzustellen, wie weit sie seine eigenen Ideen stützt. Ihm ist die Philosophie an sich weniger wichtig. Ihr Hauptwert liegt für ihn in der Rechtfertigung seiner eigenen Ideen. Wenn das Werk in dieser Hinsicht seinen Erwartungen entspricht, so nimmt er es begeistert auf und hängt ihm in gedankenloser Parteinahme an, wenn nicht wird er es wahrscheinlich mit Widerwillen und Enttäuschung beiseite legen, und es wird ihm sein, als hätte der Autor ihm ein Unrecht getan.

Der andere wieder nimmt sofort eine skeptische Haltung an, wenn er entdeckt, dass das Werk einiges enthält, wovon er bisher weder hörte noch las, worüber er auch nicht nachdachte. Vermutlich würde er die Anschuldigung, dass seine geistige Haltung der Gipfel der Selbstzufriedenheit und Unduldsamkeit sei, als im höchsten Grad ungerecht zurŸckweisen. Und doch ist es so, und eben dadurch verschließt er sich gegen Wahrheiten, die vielleicht in dem wahllos Zurückgewiesenen verborgen sind. Beide aber stehen sich selbst im Licht. "Fixe" Ideen machen sie für die Strahlen der Wahrheit unempfänglich.

"Ein kleines Kind" ist in dieser Beziehung ganz das Gegenteil von dem Erwachsenen. Es ist nicht von einem überwältigenden Gefühl überlegenen Wissens durchdrungen, noch fühlt es sich verpflichtet, weise zu scheinen und seine Unwissenheit über irgend einen Gegenstand durch ein Lächeln oder eine Grimasse zu verbergen. Es ist offen unwissend, nicht gefesselt durch vorgefasste Meinungen und daher außerordentlich gelehrig. Es nimmt alles mit dem schönen Vertrauen auf, das wir "Kinderglauben" genannt haben und in dem kein Schatten eines Zweifels liegt; in diesem Glauben behält das Kind die Lehre, bis sie bewiesen oder entkräftet wird.

In allen okkulten Schulen lernt der Schüler als erstes, wenn er eine neue Lehre erhält, alle Vorurteile zu vergessen. Er lernt, weder der Vorliebe noch dem Vorurteil die Herrschaft zu überlassen, sondern den Intellekt (mind) in einer ruhigen, würdevollen Erwartung zu halten. So wie uns die Skepsis höchst wirksam gegen die Wahrheit blind macht, so ermöglicht es diese ruhige, vertrauensvolle Haltung des Intellekts der Intuition oder der "Belehrung von innen", sich von der Wahrheit zu Ÿberzeugen. Das ist der einzige Weg zur Pflege einer vollkommen sicheren Wahrnehmung der Wahrheit.

Niemand verlangt vom Schüler, ohne weiteres zu glauben, dass ein von ihm als weiß erkannter Gegenstand in Wirklichkeit schwarz sei, wenn man ihm gegenŸber solches behauptet; aber er muss eine geistige Haltung pflegen, die "gläubig alle Dinge" als möglich gelten lässt. Dies wird es ihm ermöglichen, zeitweilig sogar die sogenannten "anerkannten Tatsachen" beiseite zu legen, um nachforschen zu können, ob es nicht vielleicht einen anderen, von ihm bisher unbemerkten, Gesichtspunkt gibt, von dem aus betrachtet der angeführte Gegenstand tatsŠchlich schwarz erscheint. Und niemals wird er es wagen, irgend etwas als eine "anerkannte Tatsache" anzusehen, denn ihm ist es völlig klar, wie wichtig es ist, den Intellekt in dem beweglichen Zustand der Anpassungsfähigkeit zu erhalten, der das kleine Kind charakterisiert. Er fühlt in jeder Fiber, dass "wir gegenwärtig durch ein Glas schauen und trübe sehen", und wie Ajax ist er immer auf dem Sprung, sich sehnend nach "Licht, mehr Licht"!

Der große Vorteil einer solchen geistigen Haltung bei der Erforschung eines gegebenen Gegenstandes, Dinges oder Gedankens liegt auf der Hand. Feststellungen, die endgültig und unversöhnlich widersprechend erscheinen und die den Vertretern beider Seiten einen sehr großen Aufwand von Gefühl gekostet haben, können vielleicht doch zu vollsäŠndiger Versöhnung führen, wie es ein Beispiel in diesem Buch zeigt.

Das Band der Übereinstimmung wird nur durch einen offenen Intellekt entdeckt, und wenn das vorliegende Werk auch von anderen abweichen mag, so erhofft der Verfasser dennoch ein unparteiisches Anhören als die Grundlage nachfolgender Beurteilung. Wird das Buch "gewogen und als zu leicht befunden", so wird der Verfasser sich nicht beklagen. Er fürchtet nur ein voreiliges und zu leichtes Urteil, das auf einer Unkenntnis des von ihm vertretenen Systems beruht, zu hören, weil eine unparteiische Kritik versagt wurde. Er möchte außerdem klarstellen, dass eine Meinung dessen, der sie äußert, auf Kenntnis beruhen muss!

Als einen weiteren Grund, beim Aussprechen der Urteile vorsichtig zu sein, führen wir an, dass es vielen sehr schwer fällt, eine hastig ausgesprochene Meinung zurückzuziehen. Daher wird der Leser gebeten, alle Äußerungen des Lobs oder Tadels zurückzuhalten, bis das Studium des Werkes ihn vernünftigerweise von dessen Wert oder Mangelhaftigkeit überzeugt hat.

Die Rosenkreuzer-Weltanschauung ist nicht dogmatisch, sie wendet sich auch an keine andere Autorität als an die Vernunft des Lernenden. Sie ist nicht polemisch; sie wird aber in der Hoffnung herausgegeben, dass sie zur Klärung einiger Schwierigkeiten beitragen möge, die sich in der Vergangenheit des Intellekts von Studierenden der tieferen Philosophie bemächtigt haben. Um ernsthaftes Missverstehen zu vermeiden, wird der Schüler eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass keine unfehlbare Offenbarung über diesen komplizierten Gegenstand - der alles unter und auch über der Sonne einschließt - möglich ist.

Eine unfehlbare Darstellung würde Allwissenheit des Verfassers voraussetzen, und selbst die "Älteren Brüder" sagen, dass sie manchmal in ihrem Urteil einen Fehler finden; daher gibt es kein Werk, dass das letzte Wort über die Welt-Mysterien spricht, und der Verfasser gibt nichts als die elementarsten Lehren der Rosenkreuzer wieder.

Die Rosenkreuzer-Bruderschaft hat die weitreichendste und logischste Auffassung über das Weltmysterium von allen, die dem Verfasser in den vielen Jahren, während denen er sich ausschließlich diesem Gegenstand widmete, zur Kenntnis gekommen sind. Soweit es ihm möglich war, selbst zu forschen, hat er ihre Lehren in Übereinstimmung mit ihm bekannten Tatsachen gefunden. Und doch ist er überzeugt, dass auch Die Rosenkreuzer-Weltanschauung noch weit davon entfernt ist, das letzte Wort über diesen Gegenstand zu sprechen; dass sich mit unserem Weiterschreiten größere Ausblicke auf die Wahrheit eröffnen, und uns viele Dinge zugänglich werden, die wir jetzt "durch ein Glas und trübe sehen". Gleichzeitig glaubt er aber fest daran, dass alle philosophischen Systeme der Zukunft denselben Hauptlinien folgen werden, denn sie scheinen absolut wahr zu sein.

Aus dem eben Gesagten ersieht man, dass der Verfasser dieses Buch nicht für das Alpha und Omega, nicht für das letzte Wort über das esoterische Wissen hält, und obschon es den Namen: "Die Rosenkreuzer-Weltanschauung" trägt, möchte der Autor doch sehr betonen, dass sie nicht als ein Glaube zu verstehen ist, der den Rosenkreuzern ein für allemal durch den Begründer des Ordens oder sonst jemanden überliefert wurde. Es sei nochmals eindringlich betont, dass dieses Werk nur das enthält, was sein Verfasser von den Lehren der Rosenkreuzer, das Weltmysterium betreffend, verstand, und was durch seine persönlichen Forschungen in den inneren Welten, bezüglich des vorgeburtlichen Zustandes und des Zustandes nach dem biologischen Tod des Menschen, bestärkt wird. Der Verfasser weiß sehr gut, welche Verantwortung jener auf sich nimmt, der wissentlich oder unwissentlich andere irreführt und er wünscht, soweit er kann, sich gegen diese Möglichkeit zu schützen und auch andere davor zu bewahren, aus Unachtsamkeit irrezugehen.

Was dieses Werk lehrt, möge daher vom Leser nach seiner eigenen Einsicht angenommen oder abgelehnt werden. Aller Fleiß ist auf den Versuch angewandt worden, die Lehre klar und verständlich zu machen, äußerste Sorgfalt ist verwendet worden, sie in solche Worte zu kleiden, die am leichtesten zu verstehen sind. Aus diesem Grund ist durchgehend immer nur ein Ausdruck gewählt worden, um einen Begriff wiederzugeben. Dasselbe Wort wird dieselbe Bedeutung haben, woimmer es angewandt wird. Wenn irgendein Wort, das eine Idee vermitteln soll, zuerst gebracht wird, so gibt der Verfasser die klarste Definition, die ihm möglich ist. Es wurden nur bekannte Ausdrücke und die einfachste Sprache angewandt. Der Verfasser war immer bestrebt, so genaue und bestimmte Erklärungen über den zu behandelnden Gegenstand zu geben, wie es ihm möglich war, und überdies alle Doppelsinnigkeiten auszuschalten, um ein klares Bild zu vermitteln. Wie weit ihm dies gelungen ist, muss der Beurteilung des Lesers überlassen bleiben. Aber ebenso, wie er keine Mühe gescheut hat, die Lehre zu vermitteln, fühlt er auch die Verpflichtung, sich gegen die Möglichkeit zu verwahren, dass dieses Werk als endgültige Feststellung der Rosenkreuzerlehren angesehen wird. Eine Nichtbeachtung dieser Vorsichtsmaßregel könnte diesem Werk im Intellekt einiger Schüler ungebührendes Gewicht geben. Das wäre weder der Bruderschaft noch dem Leser gegenüber gerecht. Denn es würde von der Absicht zeugen, die Verantwortung für die Fehler, die hier - wie in allen menschlichen Werken - erscheinen müssen, auf die Bruderschaft abzuwälzen, daher diese Warnung.

Immerhin ist es eine bemerkenswerte Tatsache, dass während der vier Jahre, die seit der Niederschrift des vorstehenden Absatzes (1909) verflossen sind, meine Forschungen alle in diesem Buch enthaltenen Lehren bestätigen und bekräftigen,so dass ich heute von der Wahrheit dieser Lehren inniger überzeugt bin, als zu jener Zeit, da dieses Buch geschrieben wurde. Neue Tatsachen haben jene in der ersten Auflage enthaltenen Lehren entwickelt und erweitert, und diese werden folgerichtig in der zweiten und dritten Auflage hinzugefügt. Aber sogar seit die dritte amerikanische Auflage erschien, wurden neue und wichtige Entdeckungen gemacht, die man in der vorliegenden deutschen †bersetzung finden wird.

Zum Schluß dieses Vorwortes ergreife ich die Gelegenheit, die Übersetzungsarbeit zu würdigen, die ich durchgesehen und in bezug auf die Fachausdrücke verbessert habe, so dass dieselben Ausdrücke angewandt sind, welche mir ursprünglich von den "Älteren Brüdern" in Deutschland - denen ich diese Erkenntnisse verdanke - überliefert wurden. Ich habe auch das Bedürfnis, der Übersetzerin für ihre schöne Wiedergabe der Gedichte zu danken; sie hat den Geist wie auch die Worte und den Rhythmus beibehalten, eine schwer zu vollendende Kunst.

Max Heindel

Einführung


Die westliche Welt ist ohne Zweifel die Vorhut der menschlichen Rasse. Aus Gründen, welche in den folgenden Seiten eingehend erörtert werden sollen, hält der Rosenkreuzer es für gewiss, dass weder Judentum noch "populäres Christentum", sondern das wahre esoterische Christentum zur Weltreligion bestimmt ist.

Buddha, der Große, der Erleuchtete, der Erhabene, kann "das Licht Asiens" sein, aber Christus wird als "das Licht der Welt" anerkannt werden. So wie die Sonne den hellsten Stern des Himmels überstrahlt, wie sie die tiefste Finsternis durchdringt und allen Wesen Leben und Licht verleiht, so wird - und in keiner allzu fernen Zukunft - die wahre Religion des Christus alle anderen Religionen zum ewigen Wohl der Menschheit aufheben und ablösen.

In unserer gegenwärtigen Zivilisation gähnt die Kluft zwischen Intellekt und Herz tief und weit, und je mehr der Geist im Reich der Wissenschaft von einer Entdeckung zur anderen fliegt, vertieft sich der Abgrund immer mehr, wobei das Herz weiter und weiter zurück bleibt. Der Intellekt fordert laut. Nur eine handgreifliche Erklärung des Menschen und seiner Mitgeschöpfe, welche die Träger der Welt der Erscheinungen sind, kann ihn befriedigen. Das Herz fühlt instinktiv, dass es etwas Größeres gibt. Es empfindet, dass seine Gefühle eine höhere Wahrheit bergen, als sie der Intellekt allein geben kann. Wie gern würde die menschliche Seele in ätherischen Höhen der Intuition weilen, wie gern sich im ewigen Quell des geistigen Lichtes, der himmlischen Liebe, baden. Aber die modernen wissenschaftlichen Anschauungen haben ihr die Flügel beschnitten, sie trauert beraubt und stumm; unbefriedigtes Sehnen nagt an ihren Trieben wie der Geier an der Leber des Prometheus.

Ist dies nötig? Gibt es denn keine gemeinsame Grundlage, auf der Kopf und Herz sich begegnen können, auf der jedes dem anderen hilft und durch diese Hilfe erfolgreicher in der Suche nach ewiger Wahrheit wird und aus der jedem die gleiche Befriedigung zuteil wird?

So wahr das vorhergeschaffene Licht das Auge schuf, um das Licht zu sehen, so wahr der ursprüngliche Trieb nach Wachstum den Verdauungs- und Assimilationsapparat zu seiner Befriedigung erschuf; so wahr der Gedanke früher bestand als das Gehirn und es zu seinem Ausdrucksmittel erbaute und noch erbaut; so wahr der Intellekt infolge seiner Überlegenheit vorauseilt und der Natur ihre Geheimnisse abringt; so wahr wird das Herz Mittel finden, seine Fesseln zu sprengen, um sein Sehnen zu stillen. Jetzt liegt es in den Ketten des herrschenden Gehirns. Der Tag wird kommen, an welchem es seine Kräfte sammelt, die Gitterstäbe zerbricht und eine größere Macht sein wird als der Intellekt es heute ist!

Ebenso sicher ist, dass es in der Natur keinen Widerspruch geben kann. Darum müssen Herz und Intellekt fähig sein, sich zu vereinen. Diese gemeinsame Grundlage aufzuzeigen, ist der Zweck des vorliegenden Buches. Es zeigt, wo und wie der Intellekt, durch die Intuition des Herzens unterstützt, tiefer in die Geheimnisse des Seins eindringen kann, als jedes für sich allein dies vermöchte. Es zeigt, wie das Herz, durch die Vereinigung mit dem Intellekt, vor Fehltritten bewahrt werden kann; wie jedes vollen Spielraum hat, sich zu betätigen, keines dem andern Gewalt antut und Intellekt wie auch Herz befriedigt werden können.

Erst wenn dieses Zusammenwirken erreicht und vervollkommnet ist, wird dem Menschen das höhere, wahre Verständnis seiner selbst und der Welt - von der er ein Teil ist - zukommen. Nur dadurch erlangt er einen starken Intellekt und ein großes Gemüt.

Bei jeder Geburt scheint ein neues Leben unter uns auf- zutauchen. Wir sehen die kleine Gestalt, wie sie lebt und wächst und für Tage, Monate und Jahre ein Faktor in unserem Leben wird. Zuletzt kommt ein Tag, an dem die Form stirbt und sich auflöst. Jenes Leben, das aus unbekannten Reichen kam, ist in das unsichtbare Jenseits entschwunden, und wir fragen uns kummervoll: Woher kam es? Warum war es hier? Und wohin ist es gegangen?

Über jede Schwelle wirft die Skelettgestalt des Todes seinen gefürchteten Schatten. Alt und jung, gesund und krank, reich und arm, alle - alle müssen gleicherweise in diesem Schatten schwinden, und durch alle Zeiten brach der qualvolle Schrei nach einer Lösung des Lebensrätsels, dem Rätsel vom Leben und Tod.

Soweit die breite Masse der Menschheit in Betracht kommt, sind die drei großen Fragen: Woher sind wir gekommen? Warum sind wir hier, und wohin gehen wir? bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben.

Leider ist es eine allgemein verbreitete Meinung, dass man über diese Fragen, die Gegenstand des tiefsten menschlichen Interesses sind, nichts Bestimmtes wissen kann. Und dennoch ist eine solche Anschauung der größte Irrtum. Jeder - ohne Ausnahme - kann fähig werden, über diesen Gegenstand präzise Aufklärung aus erster Hand zu erwerben; jeder einzelne kann den Zustand des menschlichen Geistes vor der Geburt und nach dem Tod erforschen. Da gibt es weder Protektion, noch sind besondere Gaben erforderlich. In jedem von uns schlummert die Fähigkeit, alle diese Tatsachen zu erkennen, als Urerbschaft. Aber! - Ja, da ist ein "Aber", ein "ABER", das groß geschrieben werden muss. Wohl besitzen wir alle diese Fähigkeiten, doch in den meisten von uns sind sie noch latent, schlummernd. Beharrliche Anstrengungen sind nötig, sie zu erweken, und das scheint ein mächtiges Abschreckungsmittel zu sein. Könnte man diese Fähigkeiten "wach und bewusst" für Geld erwerben, so mancher würde sie selbst um einen hohen Preis besitzen wollen, um sich deren ungeheuren Vorteil über seine Mitmenschen zu sichern; wahrlich wenige jedoch sind bereit, ihr Leben so zu leben, wie sie jene einzig und allein erwecken können. Das geistige Erwachen ist die Frucht geduldiger und beharrlicher Anstrengungen. Es ist daher nicht käuflich zu erwerben und keine der üblichen Erfolgsstraßen führt zu ihm.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass man viel üben muss, um Klavierspielen zu erlernen und dass keiner Uhrmacher werden kann, der nicht seine Lehrlingsjahre hinter sich hat. Wenn aber die großen Dinge des Seins, die Angelegenheiten der Seele, des Todes und des Jenseits in Frage kommen, glauben viele ebensoviel zu wissen wie irgendein anderer und ein gleiches Recht zu haben, eine Meinung dazu zu äußern, obgleich sie vielleicht keine einzige Stunde über solche Fragen nachgedacht hatten.

Keiner darf erwarten, dass eine solche Meinung ernste Beachtung findet, wenn ihn dazu nicht eingehende Studien und Betrachtungen berechtigen. In Gerichtssachen werden die aussagenden Sachverständigen erst auf ihre Kompetenz geprüft. Ihr Urteil hat kein Gewicht, wenn man sie nicht als durchaus in denjenigen Wissenszweig eingeweiht findet, über den sie aussagen sollen.

Wenn sie aber durch Studien und Praxis berechtigt sind, sich als Sachverständige zu äußern, werden sie mit dem größten Respekt und voller Ehrerbietung angehört. Und wenn sich die Urteile zweier gleichberechtigter Fachleute gleichen, so wirkt die Äußerung jedes weiteren Fachmannes als ungemein überzeugend.

Das unwiderlegliche Zeugnis eines Wissenden wiegt leicht die Aussagen von einem Dutzend, Hundert oder einer Million jener Menschen auf, welche davon nichts wissen. Denn eine Million mal nichts bleibt immer nichts. Dies gilt nicht nur von der Mathematik, sondern von jedem Gegenstand.

Wie vorher erwähnt, erkennen wir diese Tatsachen willig an, sobald es sich um materielle Angelegenheiten handelt. Aber wenn Dinge außerhalb der Sinnenwelt, wenn die überphysische Welt zum Gegenstand der Besprechung wird, wenn die Beziehungen Gottes zum Menschen, die innersten Mysterien des unsterblichen göttlichen Funkens - leichthin Seele genannt - geprüft werden sollen, beansprucht jeder für seine Meinungen und Gedanken, die er sich über geistige Dinge zurechtgelegt hat, ebenso ernsthafte Berücksichtigung wie jener Weise, der durch ein Leben geduldigen und angestrengten Suchens sich Wissen dieser höheren Dinge erworben hat.

Noch mehr, manche begnügen sich nicht einmal damit, das gleiche Recht für sich in Anspruch zu nehmen. Sie erdreisten sich sogar, den Worten des Weisen mit Hohn und Spott zu begegnen; sie fechten sein Zeugnis als Betrug an und, getragen von dem überlegenen Vertrauen tiefster Unwissenheit, beteuern sie, wenn sie nichts von solchen Dingen wüssten, sei es unmöglich, überhaupt etwas davon zu wissen.

Wer seine Unwissenheit erkennt, hat den ersten Schritt zum Wissen getan.

Jener Pfad ist nicht leicht, der zur Erlangung von Kenntnissen aus erster Hand führt. Nichts Wertvolles kommt jemals ohne beharrliche Anstrengung. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: besondere Gaben oder "Glück" gibt es nicht. Was man ist oder hat, ist der Erfolg von Anstrengungen. Was einem im Vergleich zu anderen fehlt, ist nur latent und kann durch geeignete Methoden entwickelt werden.

Wollte der Leser, dem diese Idee so ganz aufgegangen ist, fragen, was er tun müsste, um Kenntnisse aus erster Hand zu erlangen, so enthülle ihm die folgende Geschichte die Idee, die der Kern der Esoterik ist.

Ein Jüngling kam eines Tages zu einem Weisen und fragte ihn: "Meister, was muss ich tun, um weise zu werden?" Der Weise gewährte keine Antwort. Der Jüngling wiederholte die Frage noch mehrere Male mit dem gleichen Erfolg. Endlich verließ er den Weisen, kehrte aber am nächsten Tag mit derselben Frage zurück. Wieder erhielt er keine Antwort, und der Jüngling kam am dritten Tag abermals und wiederholte: "Meister, was muss ich tun, um weise zu werden?"

Endlich wandte sich der Weise um und schritt zu einem nahen Fluss. Er stieg ins Wasser und winkte dem Jüngling, ihm zu folgen. Als sie tief genug im Wasser waren, nahm der Weise den Jüngling bei den Schultern und hielt ihn - so sehr er sich auch dagegen sträubte - unter Wasser. Endlich aber befreite er ihn, und als der Jüngling wieder zu Atem gekommen war, fragte ihn der Weise:

"Sohn, was ersehntest du am stärksten, als du unter Wasser warst?"

Der Jüngling erwiderte ohne zu zögern: "Luft! Luft, ich brauchte Luft!"

"Hättest du nicht lieber Reichtum und Macht, Vergnügen oder Liebe gehabt, mein Sohn? Dachtest du an eines derselben?" forschte der Weise.

"Nein, Meister, ich begehrte Luft und dachte nur an Luft", kam sofort zur Antwort.

"Wohlan", sagte der Weise, "wenn du weise werden willst, so musst du die Weisheit mit derselben Inbrunst wünschen, mit der du dich eben nach Luft sehntest. Du musst um sie kämpfen und jedes andere Lebensziel ausschließen. Sie muss bei Tag und bei Nacht dein erstes und einziges Ziel sein. Wenn du die Wahrheit mit dieser Inbrunst suchst, mein Sohn, so wirst du gewiss weise werden."

Dies ist das erste und wichtigste Rüstzeug für jeden, der nach verborgener Weisheit strebt - ein Verlangen ohne Wanken, ein brennender Durst nach Erkenntnis, ein Eifer, der sich durch kein Hindernis besiegen lässt. Aber das Leitmotiv dieses Strebens nach okkulten Erkenntnissen muss der inbrünstiege Wunsch sein, der ganzen Menschheit Segen zu bringen, sich selbst über der Arbeit für die anderen zu vergessen. Ohne solch ein Motiv ist das okkulte Wissen gefahrbringend.

Wer nicht so vorbereitet ist, wem namentlich die letztgenannte Eigenschaft in einem gewissen Maße fehlt, der stürzt sich in Gefahr, sobald er irgendeinen Versuch macht, den steilen Pfad des Okkultismus zu betreten. Eine weitere Vorstufe zur Erwerbung der Erkenntnis aus erster Hand ist das Studium des Okkultismus aus zweiter Hand. Es bedarf gewisser okkulter Kräfte zur unmittelbaren Erforschung von Gebieten, die mit dem vorgeburtlichen Zustand des Menschen und dem seinem Tod folgenden zusammenhängen.

Und doch darf keiner daran zweifeln, Erleuchtung über diesen Zustand erhalten zu können, nur weil seine okkulten Kräfte unentwickelt sind. Ein Mann kann über Afrika orientiert sein, weil er entweder selbst dort gereist ist oder Beschreibungen von Afrikareisenden gelesen hat. So kann er auch die überirdischen Reiche aufsuchen, wenn er sich selbst ausreichend dazu vorbereitet, oder er kann lernen, was andere Berufene bei ihrem Eindringen erfahren haben.

Christus sagte: "Die Wahrheit soll euch frei machen", aber die Wahrheit wird nicht ein für allemal gefunden. Die Wahrheit ist ewig, und ewig muss auch das Forschen nach der Wahrheit sein. Der Okkultismus kennt keinen "allein seligmachenden Glauben". Es gibt Grundwahrheiten die bleiben, welche aber von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden können. Jede Perspektive ergibt einen anderen Anblick, welche die vorhergehende ergänzen kann. Darum muss man nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge sagen, dass es ein Erlangen der letzten Wahrheit nicht gibt.

Wenn dieses Werk von anderen philosophischen Werken abweicht, so ist dies die Folge verschiedener Gesichtspunkte. Und jede Hochachtung sei den Schlüssen und den leitenden Ideen anderer Forscher gezollt. Der Autor hegt die ernstliche Hoffnung, dass das Studium der nachfolgenden Seiten dem Lernenden helfen möge, seine Ideen voller und abgerundeter zu gestalten, als sie es vordem waren.

Übersicht:

Inhaltsverzeichnis

Max Heindel
Max Heindel wurde am 23. Juli 1865 in Aarhus als erster von zwei Söhnen von Francois L. von Grasshoff (1838-1872) und Anna Sorine Withen († 1916) geboren.

Nach dem frühen Unfalltod des Vaters, eines Bäckermeisters, zog die Witwe Ende 1873 nach Frederiksberg bei Kopenhagen.

1884 verließ er das Elternhaus, ging nach Glasgow und arbeitete dort als Tabakhändler. Hier lernte er Catherine Dorothy Luetjens Wallace (* 1869) kennen, die er am 15. Dezember 1885 in Glasgow heiratete. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Das Paar zog 1885/1886 nach Liverpool, wo Heindel, wie sein Schwiegervater, den Beruf des Schiffsingenieurs erlernte und im Zuge dieser Tätigkeit häufige Schiffsreisen machte. 1888/1889 folgte ein weiterer Umzug zurück nach Frederiksberg. Zwischen 1892 und 1896 wurde die Ehe geschieden, die Kinder kamen in die Obhut von Heindels Mutter Anna.

Etwa um 1896 brach Heindel alleine in die USA auf, hier änderte er seinen Namen von Grasshoff auf Max Heindel. Er fand in Somerville Arbeit als Ingenieur in einer Brauerei. Hier heiratete er erneut, diesmal eine wesentlich ältere dänische Witwe mit ebenfalls vier Kindern namens Petersen. Ende 1898 zogen seine vier Kinder aus erster Ehe von Frederiksberg zu ihm in die USA. Auch die zweite Ehe wurde 1899 geschieden und Heindel zog mit seinen vier eigenen Kindern im selben Jahr nach Roxbury.

Er trat vorübergehend den Quäkern bei und nach schwieriger Arbeitssuche fand er ein Auskommen als Maschinist auf einem Dampfer auf den Großen Seen. Das Schiff sank jedoch und nur mit Mühe konnte Heindel sich retten. Nach diesem Erlebnis kehrte er der Schifffahrt den Rücken und arbeitete als Heizungsingenieur.

Am 10. August 1910 heiratete er in Los Angeles ein drittes mal. Augusta Foss (1865-1949) hatte er 1903 in der Theosophischen Gesellschaft kennengelernt. Die Ehe blieb kinderlos.

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